Das Jahr der Pandemie und die Aufgaben der ALIANZA

Jahresbericht 2020 des Vereins Alianza e.V. – Pro Amazonas Peru

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In der Planung des Jahres 2020 war eines ganz besonders dick vermerkt: 40 Jahre kirchliche Partnerschaft – am 15. März sollte gefeiert werden. Der Gottesdienst und das große Jubiläumsfest waren vorbereitet, die Einladungen verschickt, das Essen gekocht. Bischof Emiliano, Victor und Elvia, die Internatseltern und natürlich Andreas Haag waren aus extra aus Peru angereist und verbreiteten bereits Vorfreude. Dann die Nachricht: Wegen eines bis dahin noch kaum bekannten Virus solle es weltweit Lockdowns geben. In ganz Deutschland werden Veranstaltungen abgesagt, um die Ausbreitung zu verhindern. Auch die Feierlichkeiten zum 40jährigen Jubiläum. Der peruanische Besuch schaffte es nur noch durch eine überstürzte vorzeitige Abreise rechtzeitig zurück nach Lima – dann wurde der dortige Flughafen pandemiebedingt für Monate geschlossen. Betrübt nahmen wir Abschied von diesen lieben Freunden. Die Einschätzung des Rottweiler Gesundheitsamts stellt sich später als etwas zu optimistisch heraus: „Feiern Sie doch im Sommer, dann ist alles vorbei!“

Fortan regierte die Sorge um die Gesundheit vieler Mitmenschen unseren Alltag – hier wie auch in Peru und weltweit. Die Situation in Peru verschlechterte sich schnell und dramatisch. Im April kamen auf Grund rigoroser Ausgangssperren vereinzelt zunächst Hilferufe aus Chachapoyas. Schwester Kati, verantwortlich für die Kinderspeisung in Chachapoyas, berichtete, dass Eltern, deren Kinder bereits täglich versorgt wurden, darum baten, weitere Kinder für die täglichen Mahlzeiten aufzunehmen. Küchenhilfskräfte, Putzkräfte, Taglöhner hatten auf einmal weder Arbeit noch Geld! Fremde Mütter klopften an Schwester Katis Tür und sagten: „Madre, nimm mein Kind in die Kinderspeisung auf, ich weiß nicht, wie ich es ernähren soll! Ich selbst habe ja nichts mehr!“ Sofort wurde klar, dass sich hier, abseits der offiziellen Berichterstattung, eine dramatische Hungerkatastrophe anbahnte. Pfarrer Jan berichtete von hungernden Tagelöhnern, die ihm erzählten, dass sie lieber an Corona stürben als an Hunger.

Als eine erste Hilfe wurde die kirchliche Partnerschaft um die Unterstützung von Lebensmitteln für 30-40 Familien mit behinderten Angehörigen der Pfarrei Santo Tomás gebeten. Die Summe konnte durch Spenden im Rahmen des „Spendenbarometers“ aufgebracht werden und Schwester Emilia setzte dieses Projekt schnell um. Ende April waren die Lebensmittelrationen für ca. 3 Wochen verteilt.

In Chats mit Freunden aus Peru wurden Möglichkeiten zur Unterstützung der armen Bevölkerung gesucht. Was aufgrund des landesweiten Reiseverbots fast unmöglich erschien, wurde mithilfe dieses Austauschs gelöst: Eine direkte Überweisung der Hilfsgelder an die Pfarreien, die in Eigenregie vor Ort die Lebensmittel einkaufen, in Säcke verpacken und dann den betroffenen Familien überreichen konnten – alles unter strengsten Corona-Vorschriften. Zunächst wurde Anfang Mai im Austausch mit Priestern und Ordensschwestern vor Ort der Bedarf an Hilfen geklärt und geplant. Dann erfolgte die Abfrage der Bedürfnisse über eine Chatgruppe aller Priester und Ordensschwestern in der Diözese, die zu einer großen Resonanz führte. Zunächst dachten wir an eine Förderung in Höhe von 10.000 bis 15.000 € – nun hatten wir nach Anfragen aus fast allen Pfarreien der Diözese und damit eine rund dreimal höhere Nachfrage. Viele Pfarreien in der Diözese Chachapoyas führen Buch darüber, welche Personen und Familien aus der Pfarrgemeinde besonders hilfsbedürftig sind und konnten damit genaue Zahlen nennen. Zwischen 50 und bis zu über 300 Familien pro Pfarrei lebten schon davor unter ärmsten Umständen und von der Hand in den Mund. Die Pandemie verschlimmerte diese Situation. Sie brauchten diese Lebensmittelpakete dringend. Derweil wurden die Pfarrgemeinden von allen Seiten um notwendige Lebensmittel gebeten. Diesen Bedarf an Unterstützung der armen Bevölkerung sahen zunächst auch große Reisbauern und Reishändler in Bagua Grande. Sie schenkten den Pfarreien tonnenweise Reis, diese kümmerten sich um die Verteilung.

Für uns galt es nun, innerhalb weniger Tage über 40.000 € für das erste Lebensmittelpaket zu organisieren. Die Nahrungsmittehilfe musste eine strukturierte Form bekommen. Am vierten Mai 2020 wurde im Rahmen einer Sitzung des Alianza-Gremiums die Unterstützung dieses Projekts beschlossen, schon wenige Tage später konnte die Überweisung mit einem hohen Anteil des Alianza e.V. nach Chachapoyas veranlasst werden. Parallel wurden die Modalitäten zur Abrechnung der Gelder geklärt, Abrechnungsformulare erstellt, Projektinformationszettel verteilt, Angaben zu den Bankverbindungen der Pfarreien gesammelt und die Bestätigung eingeholt, dass die Beträge ausschließlich für diese Lebensmittel verwendet und abgerechnet werden können. Zentraler Angelpunkt war hier wieder Schwester Emilia aus Santo Tomás, die das Geld aus Dunningen überwiesen bekam und direkt an die Pfarreien weiterleitete.

Damit konnte vor Ort eingekauft werden, im günstigsten Fall direkt im Einzelhandel. In kleinen Gruppen wurden die Lebensmittelpakete zu je etwa 30 € in Säcke verpackt. Freiwillige aus den Pfarreien, teilweise mit Unterstützung der Polizei, des Militärs oder der Gemeindeverwaltung, übernahmen die Verteilung. Die Pakete bestanden in der Regel aus Reis, Speiseöl, Nudeln, Tunfischdosen, Suppengrün, Milch, Hafer oder Bananenmehl, Zucker, Seife und Desinfektionsmittel. Die Freude der Familien war groß und unsere Hilfe kam gerade noch rechtzeitig.

Peru war im Lockdown gefangen, der weit strikter war als in Deutschland. Für Monate! Für uns war es daher eine logische Konsequenz, die zuvor geplanten Projekte nicht umzusetzen und die finanziellen Mittel für die Ernährung der ärmsten Bevölkerungsschichten einzusetzen. Wir planten eine zweite Corona-Hilfe. Dieses Mal wurde sie zu 100% von der Diözese Rottenburg-Stuttgart getragen. Zwischen Bischof Emiliano, der in Lima im Lockdown festsaß und der Diözesanverwaltung in Rottenburg wurden Formalitäten ausgetauscht. So konnten wir, vergleichbar zur ersten Hilfe, nochmals über 1500 Familien auf dem Gebiet der Diözese Chachapoyas mit Lebensmittelpaketen versorgen.

Inzwischen hatte sich das Virus auch massiv im Amazonasgebiet verbreitet. Vor allem in den warmen Niederungen um den Fluss Marañon zeigten sich erschreckende Inzidenzwerte.  Trotz schneller Reaktion kam das staatliche Gesundheitssystem bald an seine Grenzen. Die eingesetzten Schnelltests erwiesen sich häufig als unzuverlässig, Beatmungs- und Sauerstoffgeräte waren kaum vorhanden. Die täglich veröffentlichten Statistiken verhießen für die getesteten Bereiche der Gesellschaft nichts Gutes. Der Tagesablauf im Lockdown folgte einer strengen Ordnung: täglich abwechselnd durften jeweils nur Frauen oder Männer für Einkäufe außer Haus. Personenbeförderung war lediglich mit Sondergenehmigung möglich, was die Versorgung mancher Pfarrei zum Problem werden ließ. Inzwischen war der inländische Handel komplett zum Erliegen gekommen. Landwirtschaftliche Erzeugnisse konnten wegen fehlender Transportmöglichkeiten nicht mehr auf den Markt gebracht werden und verrotteten in den Lagern. Stadtbewohner hatten kein Geld um Nahrungsmittel zu kaufen, weil jegliches Gewerbe und alle Restaurants schließen mussten. Ein Teufelskreis, unter dem die ärmsten Bevölkerungsschichten stark litten.

Zahlungen bei Banken und Strom-, Telefon- und Wasserversorgern sind in Peru bis heute noch oft nur vor Ort möglich. Ganze Häuserblocks waren deshalb mit Abstandslinien auf dem Boden versehen, um beim Anstehen die Distanz von 1,5 Metern aufzuzeigen. Die Polizei kontrollierte vielerorts das „coronagerechte Schlangestehen“. Dabei war laut Medienberichten nicht in ganz Peru die Bevölkerung so diszipliniert wie in Chachapoyas.

Was in den vergangenen Jahrzehnten wie eine stete Bewegung zum Ausbluten und der Überalterung der ländlichen Bevölkerung geführt hat, kehrte sich in wenigen Wochen ins Gegenteil: es begann eine „Stadtflucht“. Viele Familien im Armutsgürtel der Großstädte wie Lima, Chiclayo und selbst in Chachapoyas konnten ihre Mieten nicht mehr bezahlen, wurden aus ihren Unterkünften geworfen und kehrten auf abenteuerliche Weise zurück in ihre Heimatdörfer. Lastwagen wurden mit Menschen beladen und der Mensch zur Ware degradiert, um den Kontrollen der Polizei zu entkommen. Hunderte von Kilometern wurden zu Fuß bewältigt, um wieder dorthin zu gehen, wo Acker bestellt und Früchte geerntet werden konnten. Doch auch dort waren die Gemeinden überfordert: Die ausgezehrten Wanderer wurden oft im Außenbereich der Dörfer in Notunterkünften für Wochen in Quarantäne gehalten und als mögliche Virusträger geächtet. In den Familien angekommen, waren die altersschwachen Eltern und Verwandten mit ihrer eigenen Versorgung schon an Grenzen gekommen. Doch das peruanische Volk spaltete sich in diejenigen, die Haben und Geben und die Menschen, die nichts geben konnten, sowie diejenigen, die nichts geben wollten. Die Ressourcen Lebensmittel und Medizin wurden wegen mangelnder Logistik knapp und so stiegen die Preise für den Lebensunterhalt noch zusätzlich stark an.

Wir erfuhren von Familien mit behinderten Angehörigen in Chachapoyas und Umgebung, die zusätzlich noch Ausgaben für lebensnotwendige Medizin zu tätigen hatten. Die ALIANZA hat sie in Härtefällen ebenfalls mit Medikamenten und Lebensmittelpaketen versorgt. Schlimm genug, wenn unschuldige Mitmenschen leiden müssen, wenn Medikamente nicht zur Verfügung stehen beziehungsweise nicht finanziert werden können.
Als zu Mitte des Jahres der Lockdown aufgehoben wurde kam Peru langsam wieder in die Gänge. Die Not war noch immer groß, denn wie sollte sich die Dorfbevölkerung ernähren? Die zusätzlichen Rückkehrer haben die Situation in den Dörfern verschärft. Man arrangiert sich mit der Pandemie, ist einfallsreich und wenig konsequent. Vor allem an den Küstenstädten und in den warmen Gebieten werden die staatlich verordneten Maßnahmen mit Füßen getreten. Der viel zu laxe Umgang führte zu hohen Infektionsraten in den Ballungsgebieten. Im Gegensatz zu manchen Dörfern, in denen die Rondas Campesinas auch viel Schaden angerichtet haben, indem sie selbst die Bewirtschaftung der Felder nicht erlaubten und damit einen weiteren Beitrag zur Ernährungsproblematik der ländlichen Bevölkerung beitrugen. Inzwischen sind diese Auswüchse aber relativiert, Bauern haben ihre Felder bestellt und nach der aktuellen Regenzeit wird hoffentlich eine üppige Ernte folgen.

Im November und Dezember 2020 wurde eine weitere Hilfsaktion mit finanzieller Unterstützung durch das Kindermissionswerk durchgeführt. Wieder wurden mehr als 1.500 Familien mit Lebensmittel versorgt. Es zeichnete sich aber ab, dass sich die Bevölkerung inzwischen arrangiert hatte, der harte Lockdown mit teilweise unsinnigen Maßnahmen jetzt einem vernünftigen Umgang mit der Pandemiesituation gewichen ist, die ländliche Bevölkerung wieder ihre Felder bewirtschaftete und der Transport und Handel mit Ware wieder möglich wurde.

Viele Maßnahmen zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung waren eingeleitet worden: Sauerstoffkonzentratoren wurden über öffentliche Spendenaktionen finanziert, aufgebaut und nahmen teilweise ihren Betrieb auf. Die Covid-Kranken werden so notdürftig zuhause mit Sauerstoff aus Flaschen versorgt. Die Anzahl der Pflegezimmer für Intensivmedizin sind zwar in überstürzten Baumaßnahmen erhöht worden, aber oft fehlt es an Beatmungsgeräte und geeignetem Fachpersonal.

Die angeblichen Bestellungen von Impfdosen bei den einschlägigen Pharmafirmen stellte sich als „Beruhigungspille“ des peruanischen Präsidenten heraus. Ende des Jahres 2020 wurde der chinesische Impfstoff „Sinopharm“ geordert. Mit den Impfungen soll noch im März begonnen werden, die Planungen laufen aktuell auf Hochtouren.

Inzwischen denkt man wieder an „öffentliche Suppenküchen“, damit die Tagelöhner, vor allem in den Städten, ihren Hunger stillen können. Die Situation ist schwierig, denn vor allem in den großen Küstenstädten steigen die Infektionszahlen mit Ende des Jahres wieder an. Der Bedarf an medizinischer Versorgung ist vielerorts höher als die vorhandenen Kapazitäten. Eine kontrollierte medizinische Versorgung ist nicht gegeben.

Oft ist die Bevölkerung der Verordnungen zum Schutz gegen eine Covid-Erkrankung überdrüssig, sie verhalten sich entsprechend, treffen sich wieder, spielen und feiern gemeinsam ohne Mindestabstand, ohne Mund- und Nasenschutz. Vielleicht ist es eine „Trotzreaktion“ von Teilen der Bevölkerung. Bleibt dennoch zu hoffen, dass Peru aus der ersten Welle etwas für die erwarteten zweiten und gegebenenfalls dritten Welle gelernt hat und es dann besser macht. Ganz aktuell steigen die Inzidenzen wieder stark an und es sieht nach der zweiten Infektionswelle aus.

Wir wollen weiter situationsbezogen handeln und unser Möglichstes zur Unterstützung der Ärmsten Bevölkerungsschichten tun. Wir sind in Verbindung mit den Freunden in Peru und loten weitere Hilfsmaßnahmen aus.

25.01.2021 / Frank Friedrich

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