Wahlkrimi in Peru – kein Ende der politischen Krise in Sicht und die COVID-Situation verbessert sich auch nicht wirklich!
Andreas Haag, Mitarbeiter der ALIANZA, schreibt aus Chachapoyas/Peru zur aktuellen Situation
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Im April wählte Peru turnusgemäß ein neues Parlament und einen Präsidenten. Wie erwartet erreichte aber keiner der fast 20 Kandidatinnen und Kandidaten im ersten Wahldurchgang die erforderliche Mehrheit von mindestens 50%, so dass für den 6. Juni eine Stichwahl zwischen den Kandidaten Keiko Fujimori und Pedro Castillo anberaumt wurde, die zwar die meisten Stimmen auf sich vereinen konnten, aber auch nur jeweils rund 15% der abgegebenen gültigen Stimmen erreicht hatten.
Diese breite Verteilung der Stimmen spiegelt sich auch in der Zusammensetzung des Parlaments wieder, wo 10 Parteien sich 130 Sitze teilen und keine Mehrheiten zusammenkommen. Koalitionen zerbrechen in der Regel schnell wieder. So war die Regierung dazu gezwungen, in der Coronakrise dringende Maßnahmen per Dekret durchzusetzen, weil das Parlament praktisch keine Gesetzesvorlagen mehrheitlich verabschieden kann – Einigkeit herrscht nur, wenn es um Diäten bzw. deren Erhöhung geht. So scheint das peruanische Präsidialsystem ein großes Hindernis für eine parlamentarische Demokratie zu sein, noch verschärft, als Präsident Alberto Fujimori 1993 die Verfassung auf sich und seine Pläne einer De-Facto Diktatur Zuschneidern ließ.
In den letzten drei Jahren hatte Peru vier Präsidenten: der 2016 gewählte Pablo Kuczynski, der übrigens knapp gegen Keiko Fujimori in der Stichwahl gewann, aber im Parlament nur 18 Sitze hinter sich hatte, während Fujimoris Partei „Fuerza Popular“ mit 72 Sitzen die absolute Mehrheit hatte. Strippenzieherin hinter den Abgeordneten, nutzte Keiko Fujimori diesen Vorteil vor allem, um sämtliche Anstrengungen der Regierung zu blockieren und um am Stuhl Kuczynskis zu sägen. So ist es dann auch nicht verwunderlich, dass der Präsident wegen eines Korruptionsfalls, der allerdings lange vor seiner Amtszeit zurückliegt, gezwungen war zurückzutreten. Übrigens hing dieser Korruptionsfall auch mit der Baufirma Odebrecht zusammen, die in ganz Südamerika tätig ist und großzügige Geldgeschenke verteilte. Damit wurde sein Vizepräsident Martin Vizcarra per Gesetz Präsident. Ihn erwischte in seiner Amtszeit auch die Coronakrise. Aber auch er stolperte schließlich über Korruptionsvorwürfe, die sicher nicht aus der Luft gegriffen sind, so dass auch er den Hut nehmen musste. Sein Nachfolger wiederum wurde verfassungsgemäß Parlamentspräsident Merino, was heftigste Proteste auslöste und das Volk auf die Straße trieb (und die Infektionsrate in die Höhe), so dass dieser nach 5 Tagen das Handtuch warf, nicht ohne vorher einige Gesetzesvorlagen vorangetrieben zu haben, darunter eine Uni-Reform. Diese wäre den Privatunis, an denen er und andere Abgeordnete Teilhaber sind, enorm zugutegekommen. Das Parlament wählte daraufhin einen neuen Parlamentspräsidenten, der dann quasi „Kraft Amtes“ automatisch Präsident wurde: Francisco Sagasti, der bis zum Ende der vorgesehenen Amtszeit von 5 Jahren an der Spitze der Regierung steht.
Spätestens seit Alan Garcia an der Spitze der APRA 1985 an die Macht gelangte, wird in Peru neoliberale Politik betrieben, auch wenn die APRA eigentlich sozialdemokratisch sein wollte.
Nach dem ersten Weltkrieg gegründet, war die Partei stets in der Opposition und teilweise gar verboten. Unter einer Militärdiktatur wurden über 1000 Mitglieder in Trujillo erschossen. So ist es nicht verwunderlich, dass mancher der neuen Staatsbediensteten mit APRA-Parteibuch nach dem Motto „jetzt endlich sind wir dran“ seine Posten für unerlaubte Bereicherung ausnutzte. Meiner Meinung nach der Anfang der Korruptionsspirale in Peru, die sich ständig weiterdreht und alle Schichten durchdringt.
Alberto Fujimori, Vater der heutigen Kandidatin Keiko, überraschte als Außenseiter 1990 mit seinem Wahlsieg in Stichwahl gegen den bekannten Schriftsteller Mario Vargas Llosa. Seinen Sieg mag er der Tatsache verdanken, dass Vargas Llosa dramatische wirtschaftliche Maßnahmen angekündigt hatte, um der verheerenden Wirtschaftskrise der APRA Regierung Garcias und deren ökonomischen Experimenten mit über 3000% Inflation entgegenzuwirken.
Fujimori versprach, ohne diese einschneidenden Maßnahmen auszukommen. Nach seiner Amtseinsetzung jedoch setzte er Vargas Llosas Pläne praktisch als Blaupause um, mit schmerzlichen Folgen für die arme Bevölkerung, aber mit dem Resultat, die Wirtschaft tatsächlich zu stabilisieren und die Inflation zu stoppen. Um freie Hand zu haben, ließ er Panzer auffahren und das Parlament schließen. Auf internationalen Druck wurde eine verfassungsgebende Versammlung einberufen, die eine Verfassung praktisch maßschneiderte für Fujimori. Staatliche Betriebe wurden privatisiert, so die Fluggesellschaft Aeroperu, die Telekommunikation und anderes mehr. Die Privatfirmen, etwa die spanischen Telefónica, erhielten vorteilhafte Bedingungen, Fujimori wohl im Gegenzug großzügige Zuwendungen.
Der Sozialabbau wurde vorangetrieben, so zog sich der Staat auch aus der Rentenversicherung zurück. Auch unter den Nachfolgern Fujimoris sollte sich das nicht ändern: Statt sozialer Marktwirtschaft neoliberale Wirtschaftspolitik. Statt gerechtem Mindestlohn Suppenküchen. Dabei spielte die politische Couleur der jeweils regierenden keine Rolle.
In der Coronakrise haben sich die Folgen des Rückzugs des Staates aus seinen traditionellen Aufgaben verstärkt gezeigt: Besonders das völlig unterentwickelte Gesundheitswesen wurde in dramatischer Weise bloßgelegt. So hat etwa hier in Amazonas, wo unsere Partnerdiözese Chachapoyas liegt, die staatliche Krankenversicherung „EsSalud“, die ein eigenes Krankenhausnetz betreibt, kein einziges Intensivpflegebett zur Verfügung. Bei EsSalud sind alle regulären Arbeiter und Angestellten versichert, daneben gibt es ein Netz von Krankenhäusern und Gesundheitsposten des Gesundheitsministeriums. Letzten Endes gibt es in Chachapoyas dadurch zwei halbe Krankenhäuser (also nicht voll ausgestattet), die zusammen aber kein ganzes ergeben, weil sie sich nicht ergänzen und auch nicht kooperieren. Ist im EsSalud kein Chirurg da, werden Patienten fast 500km nach Chiclayo gekarrt, statt 500m ins andre Krankenhaus. Ja, auch COVID-Patienten, aber meist ist in Chiclayo für diese auch kein Intensivbett zu haben, so dass sie in Chachapoyas verbleiben müssen, was oft ein Todesurteil bedeutet. Aber auch privatversicherte sind im Fall von COVID nicht besser dran: Die Kliniken auf internationalem Ausstattungsniveau (und Kostenniveau) in den Großstädten weisen die Erkrankten ab: der Versicherungsschutz decke Epidemien nicht ab. Hier fehlt Aufsicht von Seiten einer Regulierungsbehörde, also letzten Endes staatliche Kontrolle.
Nach diesem etwas langatmigen Exkurs in die jüngere Geschichte, vielleicht nötig zum Verständnis der aktuellen Geschehnisse, wieder zu unserem Wahlkampf, wir erinnern uns: Keiko Fujimori und Pedro Castillo. Von Keiko haben wir schon gehört, sie ist die Tochter von Alberto Fujimori, heute in Haft wegen Korruption, Menschenrechtsverletzungen und einigem mehr. Die 45-jährige tritt zum dritten Mal an, unterlag aber 2011 und 2016, als die Wähler dem „kleineren Übel“, wie es hier gerne heißt, den Vorzug gaben und nicht für Keiko stimmten. Übel deshalb, weil Keiko mit ihrer Partei „Fuerza Popular“ für die Kontinuität der neoliberalen Politik steht, mit eindeutigen Vorteilen für die großen Bergbauunternehmen und Baufirmen, die diese mit großzügigen Geschenken honorieren. So wird derzeit gegen Keiko ermittelt wegen bandenmäßiger Geldwäsche, soll sie doch Millionen an illegalen Parteispenden (auch von Odebrecht) als kleine Beiträge viele Spender ausgegeben haben. Dafür saß sie bereits zwei Jahre in Untersuchungshaft. Für Ihren Wahlkampf musste sie eine Sondererlaubnis der Staatsanwaltschaft erbitten, da sie eigentlich Lima nicht verlassen darf.
Überraschenderweise hat es Pedro Castillo in die Stichwahl geschafft. Der Quereinsteiger der Partei „Peru Libre“ stammt aus dem Landkreis Chota in der Region Cajamarca, ist Grundschullehrer und Bauer und hat sich als Gewerkschaftsführer im Lehrerstreik 2017 einen Namen gemacht. Er ist eine Integrationsfigur all derer, die sich von der Politik der letzten Jahrzehnte, für die Keiko Fujimori steht, vergessen und vernachlässigt sehen. Von den Medien und Umfrageergebnissen im Wesentlichen ignoriert und als „unter ferner liefen“ abgestempelt, erreichte er in der ersten Wahlrunde fast 15% der Stimmen. Ihm und seiner Partei wird vorgeworfen, vom MOVADEF unterwandert zu sein, dem politischen Arm der Terrororganisation „Leuchtender Pfad“, die in den 80ziger- und Anfangs der 90ziger-Jahre ihr Unwesen trieb. (Seit Fujimori-Papa wird dies gerne als Vorwand genutzt, um lästige Gegner zu delegitimieren und Verfolgung zu rechtfertigen.) Trotz Schmutzkampagnen der Gegenseite, die mit Hilfe der Presse versuchte Angst vor einem wiedererwachen des Terrorismus und Errichtung eines „leninistisch-marxistischen“ Regimes nach „venezolanischem Vorbild“ in Peru zu schüren. Tatsächlich kursierten in den Medien auch Aussagen von gewählten Abgeordneten oder dem Gründer von Peru Libre mit einem Diskurs, der direkt von Fidel Castro oder Mao stammen könnte. Inwieweit das aber vielleicht aus dem Zusammenhang gerissen wurde, kann ich nicht beurteilen.
Sicher ist Pedro Castillo auch zugutegekommen, dass viele Wähler einfach gegen Keiko stimmen wollten.
Inzwischen ist eine Woche vergangen, ohne dass ein Wahlsieger feststeht: Zwar liegt seit dem Wochenanfang Pedro Castillo mit 50.2% der gültigen Stimmen knapp vorne[1] (das sind rund 60.000 Stimmen mehr als Keiko), Fujimori hat aber schon am Montag in einer Pressekonferenz von „Hinweisen auf Wahlbetrug“ geredet und schließlich auch bei den Wahlschiedsgerichten Anzeige erstattet. So müssen wohl hunderttausende Stimmen erneut geprüft werden. Der Wahlausgang ist also weiterhin ungewiss. Und: Egal wer letztlich zum Sieger erklärt wird, es wird ihn oder sie der Vorwurf, die Wahl gestohlen zu haben, begleiten und die Regierungszeit überschatten. Keiko Fujimori hat jedenfalls schon jetzt aussagen gemacht, die irgendwie an Donald Trump erinnern…
Peru steht an einem Wendepunkt, es bestünde jetzt die Chance, eine neue und gerechte Politik zu machen und Fehler zu korrigieren. Die Spaltung der Gesellschaft (Keiko oder Castillo) geht mitten durch Familien, das stellt aber auch die Chance dar, die Politikmüdigkeit zu überwinden und wieder mehr Engagement der Bevölkerung zu erreichen. Dass ein Parlament wirklich eine Volksvertretung sein kann und nicht eine Interessenvertretung weniger… Aber das wird wohl ein Traum bleiben!
Ach ja, und COVID ist ja auch noch! Ein bisschen an zweite Stelle verdrängt in der Berichterstattung, gibt es dennoch weiterhin nicht viel Positives zu sagen. Die Impfung
schreitet langsam voran, bisher haben rund eineinhalb Millionen Peruaner den kompletten Impfschutz, nochmal drei Millionen die erste Dosis. Im Juli sollen schon über fünfzigjährige drankommen, das liegt aber an der Altersstruktur des Landes, überwiegen hier doch die Jungen. Hier in Chachapoyas sind schon die über sechzigjährigen geimpft worden. Aber in die abgelegensten Winkel dieser geografisch komplizierten Region ist zum Großteil noch kein Impfstoff gebracht worden.
Weiterhin sterben in Peru täglich über 200 Menschen, auch in Chachapoyas sehe ich jeden Tag den Leichenwagen fahren, manchmal mehrmals. Besorgnis erregt auch, dass im Süden des Landes die Delta-Variante festgestellt worden ist und möglicherweise für einen massiven Ausbruch in Arequipa gesorgt hat.
In Chachapoyas ist das Krankenhaus weiterhin überlastet, obwohl ein leichter Rückgang der Infektionen zu vermerken ist. Eine Verbesserung der Situation ist nicht in Sicht, angekündigte Maßnahmen wie die Errichtung von Sauerstoffanlagen gehen mehr als schleppend voran, das Hindernis ist vor allem die Bürokratie.
Im Altersheim der Diözese sind sieben Bewohner an COVID gestorben. Die Ordensschwestern sind auf dem Weg der Genesung, sind aber als Folge der Erkrankung geschwächt. Schwester Nora meint, schweren Arbeiten mit den gebrechlichen Heimbewohnern könnten von den Schwestern noch nicht wahrgenommen werden. Daher unterstützt die Partnerschaft das Altenheim mit Personalkosten für Pflegehelfer.
12.06.2021, Autor: Andreas Haag, Chachapoyas/Peru
[1] Die SZ titelt am 11. Juni 2021: „Peru: Der Albtraum der peruanischen Rechten“: Pedro Castillo bereitet sich auf seinen Wechsel vom Bauernhof in den Anden in den Präsidentenpalast vor. Als Linkspopulist will er den Reichtum aus der Bergbauindustrie gerechter verteilen, aber er hat auch eine stockkonservative Seite. (auch weitere Artikel zur aktuellen Situation in Peru unter https://www.sueddeutsche.de/thema/Peru)